Digitalisierung, Elektromobilität und Catena-X verändern das Gesicht der Autobranche grundlegend
Das System wird agiler, intelligenter und offener
Jeder weiß, die Automobilindustrie befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wandel. Der gestaltet sich jedoch etwas anders als zunächst erwartet. Während sich Themen wie autonome Fahrzeuge und Shared-Mobility bei weitem nicht so schnell entwickeln wie gedacht, verändern Elektromobilität und Digitalisierung die Branche bereits grundlegend und nachhaltig. Beide Trends zusammen, die Elektroantriebe im Fahrzeug und die Digitalisierung in der Autoproduktion, reduzieren die Einstiegbarrieren für neue Autobauer signifikant. Partnerfirmen von Fahrzeug-Herstellern kommt daher eine Schlüsselrolle bei der Branchentransformation zu. Firmen, die Lösungen zur Digitalisierung von Autofabriken anbieten, werden zu unverzichtbaren Partnern für alle Newcomer unter den Autoherstellern. Zusätzlich hilft Catena-X den Autozulieferern dabei, Daten innerhalb verschiedener OEM-spezifischer Ökosysteme effizienter zu teilen. Im Gespräch mit Schuler und der German Edge Cloud wird in diesem Report offensichtlich, welche tektonischen Verschiebungen durch die gemeinsamen Wirkkräfte Elektromobilität, Digitalisierung und Catena-X gerade im Gang sind. Das Machtgefüge in der Branche verschiebt sich.
Experten-Interview mit Schuler
Herr Vollmer, Schuler beliefert die Automobil-Industrie ja bereits seit vielen Jahren, welche Veränderungen nehmen Sie aktuell wahr rund um die Produktion von Fahrzeugen?
Zwei Entwicklungen fallen uns besonders auf. Das eine ist die zunehmende Komplexität in allen Bereichen. Ein Komplexitätstreiber im Presswerk ist zum Beispiel, Themen wie Leichtbau und Sicherheit gut unter einen Hut zu bekommen. Der größter Komplexitätstreiber ist aber sicher die zunehmende Automatisierung. Früher ist im Presswerk vieles noch per Hand erledigt worden, heute geht alles in Richtung 100% Automatisierung. Dank digitaler Lösungen geht das dann von der Logistik über automatische Qualitätskontrolle bis hin zur Rückverfolgung.
"Was uns aktuell extrem prägt, ist der Wandel zur Elektromobilität. Neue Player drängen auf den Markt, haben aber noch wenig Erfahrung bei der Autoproduktion. Diese Anbieter werden für uns immer wichtiger und digitale Lösungen helfen gerade denen enorm weiter."
Die zweite Entwicklung, die uns aktuell extrem prägt, ist der Wandel zur Elektromobilität – nicht technisch, aber aus Marktsicht. Neue Player, besonders aus Asien und den USA, drängen auf den Markt haben aber noch wenig Erfahrung bei der Autoproduktion. Diese Anbieter werden für uns immer wichtiger. Sie fangen auf der grünen Wiese an, brauchen professionelle Unterstützung und digitale Lösungen helfen da unheimlich. Wir sind daher besonders bei diesen Kunden sehr erfolgreich mit unserem Software-Portfolio, der Schuler Digital Suite. Hier helfen digitale Assistenzsysteme, wie zum Beispiel Software für die Produktionsanalyse und -transparenz besonders, um schnell Wissen aufzubauen und um eine stabile Produktion zu etablieren.
Wie genau helfen Sie Ihren Kunden dabei?
Durch die Entwicklung hin zum vollautomatisierten Presswerk in Kombination mit unseren Services und digitalen Werkzeugen nehmen wir unseren Kunden immer mehr von ihrer operativen Komplexität ab. Wir sorgen somit für eine hoch automatisierte, stabile und digital optimierte Produktion – ganzheitlich im Presswerk. Die Schuler Digital Suite beinhaltet dafür unabdingbare „Helferlein“ zur Produktionsoptimierung. Sie umfasst ein Portfolio an anlagenunabhängigen Software-Lösungen, die je nach Bedarf am Edge oder aus der Cloud genutzt werden können. Unsere Track and Trace Lösung schafft zum Beispiel Transparenz über alle Bauteile und ermöglicht eine durchgängige Bauteilverfolgung. Somit können Sie Bauteile eindeutig identifizieren, um Fehler nachzuverfolgen und zu eliminieren. Visual Quality Inspection ermöglicht eine kamerabasierte Bauteilkontrolle zur Automatisierung der Qualitätsinspektion. Shopfloor Operations Management ist eine Produktionssteuerungssoftware und sorgt somit für weniger Maschinenstillstände und eine höhere Anlagen-Verfügbarkeit. Unser Portfolio umfasst inzwischen fast 20 softwarebasierte Assistenzsysteme. Das schafft hohe Transparenz über die Fertigung, zeigt schnell Optimierungspotential auf und ermöglicht somit eine steile Lernkurve im operativen Bereich. Gerade die Newcomer unter den OEMs sind extrem froh und dankbar über unseren Service und Support, um schnell fehlendes Know-how aufzuholen und die kritische Anlaufphase von neuen Fahrzeug-Serien schnellstmöglich in den Griff zu bekommen.
Welche Rolle spielt hierbei Ihre Zusammenarbeit mit der German Edge Cloud?
Wir haben uns in der Vergangenheit sehr gewissenhaft damit auseinandergesetzt, was wir selbst entwickeln wollen, wo unsere Kompetenzen sind und wo es einen kompetenten Partner braucht. Es hat sich dabei schnell herausgestellt, dass sich GEC und Schuler sehr gut ergänzen. Das ONCITE DPS von GEC hilft uns unheimlich, den Aufgabenbereich zu übernehmen, der uns fehlt: die datenmodelltechnischen Grundlagen. Wir als Anlagenbauer wissen dagegen selbst sehr genau, woher kommen die Daten, wie müssen diese aufbereitet werden und wie stellt man diese in den richtigen Kontext. Heute ist es so, dass zwei unserer zentralen Automotive-Solutions, das Track and Trace und das Shopfloor Operations Management, auf der GEC Software-Plattform ONCITE DPS basieren. Die gemeinsame Grundlage dafür bildet ein integriertes Datenmodell von GEC. Dieses erlaubt die Betrachtungen der Daten aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln – aus Sicht der Bauteile und der Anlage. Beide Lösungen sind besonders wichtig für unsere Kunden, die sehr komplexe Fertigungslinien betreiben. Ihnen wird der Mehrwert schnell deutlich. Der Business Case von Track und Trace rechnet sich leicht durch die Reduzierung von Schrottteilen in der Produktion. In Zeiten von hohen Materialpreisen ist Schrott ein wichtiger Kostentreiber. Da ergeben sich sehr schnell Einsparungen im 7-stelligen Bereich.
"Der Business Case von Track und Trace rechnet sich leicht durch die Reduzierung von Schrottteilen in der Produktion. Da ergeben sich sehr schnell Einsparungen im 7-stelligen Bereich. Die ONCITE DPS von GEC übernimmt hierbei den Aufgabenbereich, der uns fehlt: die datenmodelltechnischen Grundlagen."
Was sind die nächsten Schritte auf Ihrer Agenda und wie sehen Sie die Catena-X Initiative?
Generell entwickelt sich Schuler, als Anlagenbauer im klassischen Karosserie-Presswerk, mit seiner Division Battery zunehmend hin zum Systemanbieter in der Batteriezellen-Fertigung. Die Parallelen in den Prozessen sind hierbei größer als man denkt. Früher war Schuler nur in der Fertigung von Zellgehäusen unterwegs, mittlerweile gehen wir sogar bis zur Zelle. Hier arbeiten wir mit unserem Tochterunternehmen, der Sovema Gruppe, an der Ausstattung von ganzen Giga-Factories für die Massenproduktion von Lithium-Ionen-Batterien. Das ist ein Transformationsprozess, der unglaublich spannend ist für uns und wir sind stolz, dass wir das erste Projekt in diesem Umfeld bereits gewonnen haben. Digitale Lösungen wie Track und Trace werden auch in diesem Bereich eine zentrale Rolle einnehmen. Transparenz und Prozessoptimierung sind in jeder komplexen und hochautomatisierten Fertigung unerlässlich. Vielleicht noch ein Wort zu Catena-X. Solche Initiativen sind für uns sehr wertvoll, weil es zunehmend darum geht, Daten aus vorgelagerten Prozessschritten in der Fahrzeugfertigung, wie dem Presswerk, an Folgeprozesse weiterzuleiten, um beispielweise Klebeprozesse basierend auf diesen Daten zu optimieren. Wir sehen also das Potential und freuen uns auf gemeinsame Standards für den Datenaustausch.
Robert Vollmer
Produktmanager bei Schuler
Robert Vollmer verantwortet als Produktmanager bei Schuler das digitale Lösungsportfolio für die Automobilindustrie. Er kommt aus dem klassischen Maschinenbau und ist seit 6 Jahren bei Schuler in unterschiedlichen Aufgaben tätig. Während dieser Zeit hat sich sein Zuständigkeitsbereich von der reinen Mechanik zunehmend in Richtung Digitalisierung verschoben. Seine wichtigste Aufgabe ist heute die Entwicklung von Software zur Produktionsoptimierung für die Automobilindustrie.
Experten-Interview mit German Edge Cloud
Herr Meuser, als Mitglied im Beirat von Catena-X und Industrie 4.0 beschäftigen Sie sich intensiv mit dem Thema Digitalisierung in der Auto-Produktion. Wo geht hier die Reise hin aus Ihrer Sicht?
Wir sehen schon seit einigen Jahren die Bestrebungen großer Automobilhersteller, eigene digitale Produktions-Plattformen in Ihren Werken zu etablieren und Schritt-für-Schritt auch Ihre Zulieferer einzubinden. Beispiele dafür sind die Digital Production Plattform (DPP) von VW mit AWS und die Open Manufacturing Platform (OMP) von BMW mit Microsoft. Die Vision ist nicht neu, war bisher aber nur begrenzt erfolgreich. Für viele Zulieferer, die ja mit verschiedenen OEMs zusammenarbeiten, ist das nicht praktikabel. Dank der Catena-X Initiative kann nun aber die Vision eines OEM-übergreifenden und auf gemeinsamen Standards-basierenden Datenökosystem für den Austausch von produktionsspezifischen Daten in der Automobil-Branche endlich Wirklichkeit werden. Autozulieferer bleiben jederzeit Herr ihrer Daten, müssen sich nur einmalig integrieren und können somit Mitglied in verschiedenen OEM-spezifischen Ökosystemen werden und Daten zur Geschäftsprozessoptimierung austauschen. Was 2019 als Vision begann, kann nun mit dem „Go-Live“ des Catena-X Automotive Networks und der Cofinity-X Betreibergesellschaft im Oktober 2023 Realität werden. Die konkrete Implementierung bei den Unternehmen erfolgt dann Schritt-für-Schritt in den kommenden 3-4 Jahren. Zukünftig engagieren wir uns auch bei Manufacturing-X, einer neuen Initiative, um die entsprechenden Anwendungen für den fabrikinternen Einsatz gemeinsam zu definieren. Diese Applikationen fungieren dann als Datenlieferanten aus den jeweiligen Fabriken heraus und können zukünftig über branchenspezifische Marktplätze, wie bei Cofinity-X im Automotive-Bereich, im Ökosystem verteilt und gemeinsam genutzt werden. All diese Applikationen benötigen ein einheitliches Datenmodell als Basis für den Datenaustausch.
"Mit dem „Go-Live“ des Catena-X Automotive Networks und der Cofinity-X Betreibergesellschaft im Oktober 2023 kann nun die Vision eines OEM-übergreifenden und auf gemeinsamen Standards basierenden Datenökosystems für den Austausch von produktionsspezifischen Daten in der AutomobilBranche endlich Wirklichkeit werden."
Geben Sie uns ein konkretes Beispiel wie das aussehen kann.
Unsere Zusammenarbeit mit Schuler bringt das gut auf den Punkt. Die Track and Trace Lösung von Schuler erlaubt im ersten Schritt die Prozessoptimierung innerhalb des Presswerks. Im zweiten Schritt geht es dann darum Prozess- und Bauteilbezogene Daten an Folgeprozesse weiterzuleiten, um eine Optimierung auch über Fabrik-Grenzen hinaus, also innerhalb der Lieferkette zu ermöglichen. Robert Vollmer hat bereits das Beispiel von Klebeprozessen erwähnt, die man mit Bauteil- und Prozessdaten aus dem Presswerk optimieren kann. Das verdeutlicht sehr schön, worum es geht. Catena-X will genau diesen Fabrik-übergreifenden Datenaustausch, basierend auf einem gemeinsamen Datenmodell, in der Autobranche etablieren und Optimierungspotential freisetzen.
Aus Ihrer Sicht, welche Relevanz hat Catena-X für die Automobil-Industrie?
Der Datenaustausch innerhalb der Autoindustrie ist enorm wichtig geworden. Innovationszyklen werden immer kürzer und es muss alles getan werden, um eine qualitativ hochwertige Produktion ohne großangelegte und teure Rückrufaktionen von Anfang an zu gewährleisten. Das erwarten die Kunden. Andere Autobauer aus den USA und Asien sind hier schon weiter als viele europäische Anbieter. Daher ist es für die Autobranche unerlässlich, dass Qualitätsinformationen aus der Fahrzeugflotte schnellstmöglich zurückfließen in die Lieferkette, um Schwachstellen in der Fertigung zu beheben. Rückmeldungen von Problemen direkt aus dem Fahrzeug in die Lieferkette werden zum Erfolgsfaktor für die Autoindustrie. Denken Sie nur an die zunehmende Bedeutung von Software im Fahrzeug, Stichwort Softwaredefined Vehicle. Diese Entwicklung ist unvorstellbar, ohne gleichzeitig schnelle und kontinuierliche Verbesserungsprozesse zu implementieren. Daher bin ich davon überzeugt, dass Catena-X sich zumindest im europäischen Raum als Standard etablieren wird. OEM-spezifische Lösungen sind einfach nicht zielführend für die große, europäische Zuliefererindustrie, die schon immer mit verschiedenen Autoherstellern zusammengearbeitet hat. Ob sich Catena-X auch in anderen Regionen der Welt etablieren kann, wird sich erst noch zeigen müssen, aber es gibt schon erste ermutigende Ansätze wie in Japan.
"Für die Autobranche ist es unerlässlich, dass Qualitätsinformationen aus der Fahrzeugflotte schnellstmöglich zurückfließen in die Lieferkette, um Schwachstellen in der Fertigung zu beheben. Rückmeldungen von Problemen direkt aus dem Fahrzeug in die Lieferkette werden zum Erfolgsfaktor für die Autoindustrie."
Wie bringt sich GEC bei Catena-X ein?
Wir sind ein Unterstützer der ersten Stunde und waren von Anfang an überzeugt, dass ein offener Ansatz das richtige ist. GEC war in vielen Bereichen an der Entwicklung von Catena-X beteiligt. Dazu gehört der Eclipse Dataspace Connector (EDC), der die Konnektivität zum Datenökosystem sicherstellt, die Entwicklung des grundlegenden Datenmodells basierend auf Asset Administration Shell (AAS) und die Ausarbeitung des Track and Trace Anwendungsfalls im Catena-X Kontext. Darüber hinaus hat GEC das erste zertifizierte Produkt für Catena-X im April 2023 auf den Markt gebracht. Das ONCITE Digital Production System (DPS) ist die erste Catena-X-zertifizierte Lösung und nahtlos in das Netzwerk integriert. Das ONCITE DPS CX-Gateway (Connectivity Gateway), welches auf Basis von Open Source-Komponenten entwickelt wurde, ermöglicht den schnellen, gesicherten Datenaustausch mit anderen Catena-X-Teilnehmern. Damit bekommt auch der Mittelstand unkomplizierten Zugang zu Catena-X.
PAC im Gespräch mit Schuler und German Edge Cloud
Interviewer: Arnold Vogt, Lead-Analyst bei PAC GmbH
Dieter Meuser
CEO für Digital Industrial Solutions bei German Edge Cloud
Dieter Meuser ist CEO für Digital Industrial Solutions bei German Edge Cloud Dieter Meuser leitet seit 2019 die Industrie-Sparte der GEC. Er war Gründer und ehemaliger CTO des MES-Softwareherstellers Itac. Als Experte in Sachen smarte Fertigung ist er im Beirat bei Catena-X aktiv und wurde im Jahr 2023 zusätzlich in den Forschungsbeirat Industrie 4.0 berufen. Das von acatech koordinierte Gremium berät insbesondere das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Über Schuler
Schuler bietet kundenspezifische Spitzentechnologie in allen Bereichen der Umformtechnik – von der vernetzten Presse bis hin zur Presswerksplanung. Zum Produktportfolio gehören neben Pressen auch Automation, Werkzeuge, Prozess-Know-how und Service für die gesamte metallverarbeitende Industrie. In der sogenannten Digital Suite ver-sammelt Schuler Lösungen zur Vernetzung der Umformtechnik und entwickelt diese ständig fort, um die Produkti-vität und Verfügbarkeit der Anlagen weiter zu verbessern. Zu den Kunden zählen Automobilhersteller und -zulieferer sowie Unternehmen aus der Schmiede-, Hausgeräte- und Elektroindustrie.